Aufarbeitung

Ab 1949: Das verwaltete Kind

7. Station der Aufarbeitung

Abgrenzung von Anfang an: Das Kind und seine Eltern

Der Bestseller der Lungenfachärztin Dr. Johanna Haarer „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ galt von den Dreißiger bis in die Sechziger Jahre als das Erziehungs-Grundwissen für Familien

sowie Berufstätige im Bereich Soziale Arbeit und Säuglingspflege. Dr. Haarer schreibt darin von Affenliebe, die Eltern für ihre Kinder empfänden, und wie ihr Kind sich zum Haustyrann entwickeln würde, wenn sie individuell auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingingen. Fünf pünktliche Mahlzeiten à 20 Minuten pro Tag und immer eine 8-stündige Nachtruhe für die Mutter galt noch für viele Kinder der Babyboomer-Generation von Geburt an. Das bedeutete: das Baby schreiend allein lassen und ein zugesprochenes „Recht“ auf Abgrenzung der Erwachsenen. Ich denke, eine tiefe Bindung zum Urvertrauen ins Leben entsteht nur, wo Mütter und Väter zuhause ihrem Gespür folgen, etwas von Individualität und Bindungsverhalten verstehen, sich selbstbewusst nicht hineinreden lassen. Beispielsweise wurde Milchersatznahrung stark beworben: die Firma Nestlé z.B. erzielte hohe Absätze für Pelargon-Milchpulver. (1) Vielfältige Massenproduktion und -verkauf stützten das Wirtschaftswunder. Hier trug dies indirekt dazu bei, dass durch mangelnde Förderung des Stillens die sichere Bindung des Babys an die Mutter eingeschränkt wurde.

Viele kleine Menschen lernten sehr früh durch ihre Eltern, sich gehorsam zu fügen und eigene Bedürfnisse zu vermeiden. Liebe bzw. Anerkennung schien mit Leistung wie z.B. Gehorsam verbunden zu sein. Kam dann eine wochenlange Verschickung in der Kindheit als räumliche, kontaktlose Trennung vom Zuhause bei strikten Gehorsam einfordernden „Tanten“ hinzu, wurden starke Grundlagen zum dauerhaften physischen und mentalen Funktionieren der kleinen Staatsbürger:innen gelegt. Demokratie? „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, seit 1949 im Grundgesetz? Die Träger der Kinderkurheime von Staat und Kirche führten keine bzw. kaum Kontrollen aufgrund ihrer übernommenen Verantwortung gegenüber Minderjährigen und deren Erziehungsberechtigten in ihren Kinder-Kurheimen durch. Vielen Eltern kamen damals wegen gesellschaftlich stark verbreiteter Autoritätsgläubigkeit keine Zweifel und sie ahnten nichts von den institutionellen Voraussetzungen zur Ausübung psychischer und physischer Gewalt an ihren Kindern.

Neu: Die Sozialkur „Reha vor Rente“

1957 trat ein neues Rentenregelungsrecht in Kraft. In diesem Kontext erhielt die Gesunderhaltung von Arbeitskräften während des Berufslebens erstmals staatlichen Vorrang, um Arbeitsunfähigkeit möglichst zu vermeiden. Die Rententrägerwurden zu Kostenträgern dieser Maßnahmen, Krankenkassen schlossen sich ab 1974 an. Es ging sogar um eine „Hebung der gesundheitlichen

Verhältnisse der Versicherten und ihrer Angehörigen“! In den ersten Jahren standen Zuschüsse zu Kinderkuren im Vordergrund, da privater Familienurlaub selten bezahlbar war. Ab den 60er Jahren galten Reha-Leistungen gezielt Kindern aus sozial schwachen Familien und die zur Kurbewilligung führenden Diagnosen erweiterten sich. 1965 gab es 693.195 medizinische Rehabilitationen, davon wurden 15.308 Leistungen Kinderrehabilitation in den westdeutschen Bundesländern abgerechnet. (…) “die inhaltlichen Schwerpunkte der Rehabilitationsleistungen für Kinder (…) haben sich im Laufe der Zeit entlang gesellschaftlicher, sozioökonomischer und gesundheitlicher Entwicklungstrends verschoben.“ (2) Der gesundheitsrechtliche Weg für eine Vielzahl von Kurkindern war seit 1957 erweitert und wurde vielfach kräftig beworben: In den Kurorten wurde es systematisch immer voller.

Massentourismus

Massenreisen wurden bereits im Nationalsozialismus durch die Parteiorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF) als Erholungsfahrten quer durch Deutschland preiswert durchgeführt. In Prora auf Rügen kann man noch heute die Ausmaße von damals gebauten Massenquartieren direkt am Strand betrachten. Tausende von Gruppen waren mit der HJ z.B. wegen Kinderlandverschickung quer durch Deutschland unterwegs (siehe 5.Station meiner Aufarbeitung).

Der Bankangestellte Josef Neckermann (NSDAP) hatte durch Übernahme mehrerer jüdischer Textilbetriebe bis 1945 eine enorme Karriere gemacht, die sich viel später auch für Touristen auszahlen sollte. Schon 1948 konnte er wieder eine Firma gründen. Als sich diese erfolgreich durch Versandhandel vergrößerte, bot er ab Anfang der Sechziger Jahre Flugreisen an (NUR-Reisen). Diese Pauschal-Reiseangebote wurden stark nachgefragt, daher zahlreicher und differenzierter angeboten. Schließlich kam Aktiv-Urlaub als neuartiges Angebot hinzu. (3) Dies ist ein Unternehmen von mehreren, die während des Wirtschaftswunders den „neuen“ Massentourismus gewerblich begründeten. Parallel dazu wurde der Staat tätig: Massen von seinen jüngsten Bürger:innen in „gute Luft“ zur „Erholung“ zu entsenden, passte als „Wohltat“ in die damalige Zeit und trug gleichzeitig zum ersehnten Wirtschaftserfolg nach den durchlittenen Nachkriegs- und Hungerjahren bei.

Prof. Rüdiger Hachtmann, Historiker, beklagt das Fehlen einer offiziellen Aufarbeitung der deutschen Tourismus-Geschichte. Fremdenverkehr bzw. Tourismus habe stets eine hohe ökonomische und kulturelle Bedeutung gehabt, die es zeitgeschichtlich auszuwerten gelte.(4)

Bezogen auf den Massentourismus des Nationalsozialismus, der gleichzeitig ideologischer Festigung diente und den Kinder-Gesundheitstourismus ab den Fünfziger Jahren, der gleichzeitig wirtschaftlicher Festigung diente, frage ich mich, wann Missbrauch beginnt und beklagt werden muss. Noch sind die Forschungen nicht abgeschlossen, um die Frage des Profits zu beantworten, den der ärztlich verordnete und von den Trägern sowie Kurorten Jahr um Jahr abgerechnete Verschickungsstourismus erbracht hat. Ich muss vermuten, dass unfassbares Leid unfassbaren Summen gegenübersteht.

Zum Stichwort Fremdenverkehr gehört meiner Meinung nach auch der sogenannte „Vergangenheitstourismus“, der in Deutschland besonders seit dem Fall der Mauer und dem Ende des Eisernen Vorhangs vor allem in die osteuropäischen Länder eingesetzt hat. Auch ehemalige Verschickungskinder fahren wieder zu früheren Orten ihrer Leiden in Deutschland und bringen dort diesmal selbst Geld in die Kassen. Hier könnten Kurorte ansetzen und sich engagieren, um als Zeitzeugen zu einer lebendigen und anschaulich erzählten Erinnerungskultur beizutragen. Unsere Kinder und Kindeskinder müssen erfahren, warum damals welche System-Fehler gemacht wurden, um die Möglichkeit stiller Weitergabe von systemischer Gewalt verständlich zu machen und dadurch öffentlich zu beenden.

Mir kamen zwischendurch Zweifel an meinen zeithistorischen Kenntnissen; sie führten mich auf einen unerwarteten Weg: Ich musste die deutsche Nachkriegsgeschichte genauer befragen, wie nach Kriegsende die berühmte „Stunde Null“ und die ersten Jahre in Deutschland gestaltet wurden. Hatte es nach der Kapitulation eine der ganzen Gesellschaft bewusste gedankliche Nullsetzung hinter das nationalsozialistische Elite-, Vernichtungs- und Führerprinzip gegeben? Wie haben die Besatzungsmächte den besiegten Deutschen ab einem „Tag Eins“ geholfen, das rassistische Elite-Denken abzuschaffen und zu einem menschlich-demokratischen Neuanfang verholfen? Das Grundgesetz war mir bisher wie eine Art Garant für die Demokratie in unserem Land erschienen. Aber wie ist mein Eindruck zu erklären, dass damals ein im Volk bestehen gebliebenes, logischerweise äußerlich verborgenes und verschwiegenes Tunnelsystem mit nationalsozialistischer Einfärbung weiterhin existiert haben könnte?

(1) A. Fleischmann:Kleinkindererziehung in der NS-Zeit u. ihre Folgen f. d. Betroffenen, 2010, S.5

https://d-nb.info/1063085063/34, S.21 ff

(2)v-dok.de/downloads/Aufbrueche_in_der_Rehabilitation.pdf. S.66, 67

(3)de.m.wikipedia.org/wiki/Neckermann_(Versandhandel)

(4) docupedia.de/zg/Tourismus_und_Tourismusgeschichte

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