Aufarbeitung,  News

Auswertung der von der Diakonie Niedersachsen veröffentlichten Dokumentation zum Seehospiz vom 20.08.2021

Autor: Bruno Toussaint – mit freundlicher Genehmigung

Bruno Toussaint aus Berlin und Köln, heute 67 Jahre alt, war in den 60er Jahren viermal je drei Monate im Seehospiz auf Norderney. Als einer der aktiven Moderatoren des “Seehospiz Forum” auf dem Blog ForumRomanum hat er jetzt eine Auswertung zu der kürzlich von der Diakonie Niedersachsen veröffentlichten “Geschichtswissenschaftlichen Dokumentation zu den Kinderheimen der Diakonie” vorgelegt, hier zum Seehospiz auf Norderney, einem der größten aller damaligen deutschen Kinderheime, siehe: Link

Ende 2020 wurde zwischen dem Sozialministerium und der evangelischen Diakonie in Niedersachsen und der Initiative verschickungsheime.de (im Grunde Anja Röhl und Valerie Lenk als Privatpersonen) ein “Letter of Intend” geschlossen, der eine rein archivarische Aufarbeitung der Geschehen in den Kinderheimen nach bereits verjährten Fakten vorsah – ohne weitere Verabredung für die Betroffenen. Spektakulär war auch die Aufarbeitung der Todesfälle von drei Kindern in Bad Salzdetfurth. Dennoch, es wurde letztlich nur eine “Aufarbeitung light” beschlossen, die das Wirken der Täterorganisationen nie wirklich ausleuchten sollte. Hier geht es nun zum größten aller deutschen Kinderheime, das Seehospiz auf Norderney, das während der 60er bis 80er Jahre einen Durchlauf von bis zu 80.000 Patienten hatte. Viele hier im Forum beklagen sich aufs heftigste über schwere Folgekrankheiten und Traumatisierungen bis zum heutigen Tag.

Zum Seehospiz schrieb die Germanistin und zugleich ausgebildete Historikerin Dr. Nicole Schweig aus Hamburg folgende Dokumentation ab Seite 120 ff.
https://www.diakonie-in-niedersachsen.de/pages/presse/presseinfo/dokumentation_kinderkurheime/index.html Um ihren Text wirklich verstehen zu können, muss man allerdings vorab die Namenskürzel weitgehend entschlüsseln, eigentlich auch den gesamten Inhalt entschlüsseln, daher meine Auswertung.

Frau Dr. Schweig hat gelegentlich in der Medizingeschichte geforscht, ist aber hauptberuflich als Prüfungskoordinatorin für Deutsch an der VHS in Hamburg tätig. Fragwürdig ist auch, dass sie z.B. das Interview mit der Oberin Renate Kätsch (Kürzel Sr. R. K.) aus dem Diakonissenmutterhaus in Bad Harzburg ungeprüft übernommen hat – es wirkt stellenweise geschönt und entspricht nicht dem realen historischen Kontext. Die gesamten Texte in den Archiven durften auch nicht kopiert werden, es wird nur summarisch zitiert – in wenig verständlichem Deutsch. Auch warum Sperrfristen gelten, wird nicht beantwortet; diese und viele andere Fragen muss sich die Diakonie nun dringend stellen.

PRÄAMBEL ZUR WEITEREN AUSWERTUNG

Möglicherweise fällt es den von mir angesprochenen Medienvertretern und / oder Parlamentariern schwer, die von der Diakonie Ende August vorgelegte Dokumentation, einschließlich meiner “Entschlüsselung” im ersten Moment zu verstehen. Daher sei kurz festgehalten, dass es sich bei der von der Diakonie vorgelegten Dokumentation letztlich um die Aufarbeitung einer pietistisch-religiösen und einer medizinischen Subkultur handelt, deren Aktivitäten unterhalb des Radars der damaligen Rechtsprechung stattfanden und bei denen es nie zu strafrechtlichen Verfolgungen oder Anzeigen durch die Eltern der heute über “Missbrauch” klagenden Kinder kam. Auch die vom damaligen Chefarzt Prof. Dr. Wolfgang Menger international propagierte Balneologie (Bäderheilkunde) entpuppt sich im Nachhinein als eine Wellness-Theorie ohne belastbare empirische Grundlage. Dennoch wird er bis heute ikonisch gefeiert und auf Norderney mit einer Bronzebüste im typischen Stil des Nachkriegspathos der 1950er Jahre gewürdigt. Für viele der Kinder aber war die Fahrt in den Sonderzügen der Adenauer-Ära und der Folgezeit nach Norddeich-Mole und mit der “Frisia” nach Norderney eine “Reise ohne Wiederkehr”, sie wurden schwer geschädigt.

ERLÄUTERUNG DER MISSSTÄNDE UND VERGEWALTIGUNGEN IM SEEHOSPIZ – SIEHE AB SEITE 128 DER DOKUMENTATION

Ab Seite 128 wird über Missstände berichtet, die sich nahtlos mit dokumentierten Zeugenaussagen decken, z.B. der damaligen Diakoniehelferin Heiderose Wanzelius auf Seite 3 dieses Forums (bei Google Seehospiz Forum eingeben – dann Seite 3) oder mit der dokumentierten Zeugenaussage eines alias “Hans-Dominik Bell” (auf Seite 2) über die Verabreichung von Psychopharmaka (gemeint ist Atosil mit beigefügter Rechnung). Dazu kommt im Dezember 2020 die Aussage der Ehefrau eines Kantors aus Mittelfranken über eine Gruppenvergewaltigung ihres Mannes im Jahr 1979. Im Forum selbst wird ähnliches fürs Jahr 1976 berichtet, belegt sind auch mehrere Vergewaltigungen im Jahr 1965. Der Hintergrund ist immer derselbe: Die Schlafsäle, entgegen der Dokumentation von Schweig und der Aussage der Oberin, meist überfüllt, beherbergten Jugendliche bis zu 14 Jahren und älter mit akuten Masturbationsproblemen, die sich an kranken Kindern vergriffen. Zuletzt berichtet am 19.08.2021 noch ein “ms-ulf” über schwere Folgeerkrankungen mit fast tödlichen Folgen nach seiner Entlassung. Wie viele meldet er sich auf mein Nachfragen aber nicht mehr, siehe hier: https://350928.forumromanum.com/member/forum/entry_ubb.user_350928.2.1137199386.1137199386.1.ehemalige_kurkinder_des.html?onsearch=1

HANDFESTER STREIT UNTER KORYPHÄEN WEGEN DER ZUSTÄNDE IM SEEHOSPIZ.

Im weiteren Bericht der Dokumentation wird ein handfester Streit unter Ärzten beschrieben. Grund waren die grauenhaften Zustände im Seehospiz, die aber wohl erst nach Ankunft von Prof. Wolfgang Menger als Chefarzt im Jahr 1957 zu registrieren waren. Ab diesem Zeitpunkt erscheinen nämlich im Seehospiz-Forum die ersten Berichte über Vergehen des Pflegepersonals. Ende 1973 trat dann der als Dr. Dr. S.-H. G. benannte Dermatologe, anderswo nur Günther genannt, dann Prof. Dr. Dr. G., für genau zwei Monate in die Dienste des Seehospiz. Nach Recherchen handelt es sich um den renommierten späteren Prof. Dr. Dr. Siegwart-Horst Günther, der bis 2015 in St. Peter Ording lebte und dort praktizierte (https://de.wikipedia.org/wiki/Siegwart-Horst_Günther ). Mit anderen Worten, wenn dieser Arzt, der kurz danach in Albert Schweitzers Urwaldhospital Kinder behandelte, sich mit der gesamten Ärzteschaft und Schwestern und sogar mit dem Pastor im Seehospiz anlegt, dann muss man schon von schlimmsten Vorfällen ausgehen. All dies wird aber wegen der nicht geöffneten Archive vertuscht. Darum die wiederholte Frage, warum werden die Akten nicht zugänglich gemacht??

Man bedenke, dass dieser Arzt am Kriegsende im Konzentrationslager Buchenwald gesessen hat und später, 1995, die abscheulichen Ursachen von Krebs bei Kindern aufdeckte, die mit Uranmunition im Irak spielten, was ihn in Deutschland ins Gefängnis brachte und später mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert wurde – ihn aber nicht erhielt. Allerdings sollte man den Wikipedia-Text mit Vorsicht lesen, da Günthers Zugehörigkeit zur Stauffenberg-Gruppe in der Nazi-Zeit von ihm selbst in seiner Autobiographie nicht eindeutig belegt ist. Hier ein weiterer Bericht des Kölner Filmemachers Frieder Wagner aus dem Jahre 2015: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2015/nr-34-3-februar-2015/zum-tod-von-professor-dr-dr-siegwart-horst-guenther.html

VON HIER AN ERLAUBE ICH MIR, DEN NICHT IMMER VERSTÄNDLICHEN TEXT VON DR. NICOLE SCHWEIG ETWAS FREIER DARZUSTELLEN

Prof. Menger war mehr oder weniger das, was man als typisch deutschen Karrierearzt mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein bezeichnen könnte, typisch auch für die Zeit nach dem Weltkrieg. Warum er nach 1940 tatsächlich ununterbrochen an der Universität Mainz studieren konnte, ohne zum Militärdienst eingezogen zu werden, ist eine andere Frage; allein das Thema seiner Promotion im Jahr 1944 spricht jedoch Bände: “Die Salzburger Auswanderung nach Ostpreußen in den Jahren 1731/32 – ein medizinhistorischer Beitrag zur Umsiedlungsproblematik.” Man könnte auch sagen: eine Nullachtfünfzehn-Promotion mit völkisch-religionsgeschichtlichem Hintergrund im Dienste der Medizin. Möglicherweise hat er mit dieser Haltung die Personalkommission überzeugt und hatte fortan Narrenfreiheit. Bei der geforderten erneuten Aufarbeitung des Seehospiz wäre auch zu klären, wie die Schwestern und der von ihnen vergötterte Chefarzt (meine Interpretation der Aussage der Oberin Renate Kätsch S. 133) in der gleichen ideologischen Denkweise miteinander umgingen und warum er so wenig Kontrolle ausübte, z.B. bei der Medikation der eigentlich nur für Erwachsene zugelassenen Psychopharmaka, worauf weiter unten ausführlich eingegangen wird.

KINDER MUSSTEN STRAMM STEHEN, WENN DIE INTERNATIONALE VISITE ANRAUSCHTE UND DIE FOLGEN

Mit Hilfe seiner Kollegen am Seehospiz und vor allem mit Hilfe der Diakonissen baute Menger auf Biegen und Brechen ein Lehrgebäude der Balneologie auf, das in vielen Bereichen nicht durch empirische Daten gedeckt war, weil die ständig wechselnden Witterungsverhältnisse keine konstanten Daten zuließen – siehe Dokumentation S. 135. Zugleich hat er nie eine empirische Studie über den Langzeiterfolg der “Kur” bei den Kindern mit Asthma & Neurodermitis gemacht, wo ihm hätte auffallen müssen, dass viele der Kinder nach Ende der Kur schwer körperlich oder psychosomatisch krank wurden. Vielmehr – so scheint es mir – war es sein Ziel, seine Professur an der Universität Mainz mit allen Mitteln zu forcieren und internationale Erfolge zu sammeln, was ihm auch gelang. Die Kinder standen darum in Erwartung der internationalen Visite im Spalier halbnackt stramm und mussten sich von ihnen fremden Medizinern aus Japan betatschen lassen und wurden so zum bloßen Anschauungsobjekt – dies als inhaltliche Erklärung im Zusammenhang des Interview mit Renate Kätsch S. 133.

Einen ähnlichen Karriereschub erhofften sich wohl auch die zwei ihn unterstützenden Oberärztinnen, Dr. med. K. H.-M. und Dr. med. B. F., die ihrerseits gegen drei Medizinstudenten vorgingen, die ebenfalls die Zustände im Seehospiz anprangerten. Prof. Menger wiederum warf Dr. Günter vor, das Lehrgebäude der „Kinderheilkunde“ (Interpretation Schweig) oder wohl besser der Balneologie zerstören zu wollen und seinen Ruf und damit auch den Ruf der gesamten Einrichtung zu schädigen.

EIN BLICK AUF DAS KIRCHLICHE PERSONAL, MIT VERSTÖREND RELIGIÖSEM SENDUNGSBEWUSSTSEIN

Das ging so weit, dass sogar der Leiter des Seehospizes, der immer ein Pastor war, in dem Fall Pastor Herrmann Flake, von der Kanzel der blauen Seehospiz- kapelle gegen Dr. Günther wetterte. Briefe gingen hin und her, landeten bei der höheren Aufsichtsbehörde der evangelischen Kirche, aber merkwürdigerweise nie bei der Staatsanwaltschaft. Auch der Stationsarzt Dr. R. W. distanzierte sich offiziell von den Vorwürfen, die gegen Dr. Günther erhoben wurden.

Dieses gegenseitige Agieren unter der Prämisse einer überdrehten pietistischen Religionsauffassung deckt sich wiederum mit Berichten im Forum Romanum, ebenso mit den äußerst genauen Berichten der Zeugin Heiderose Wanzelius als Diakonische Helferin im Jahr 1970. Von ihr habe ich noch weitere Berichte, etwa dass die Schwestern im Jahr 1974 eine Helferin dazu erpressen wollten, in den pietistischen Orden einzutreten, nur weil sie mit einem Helfer “etwas zu intim” wurde (Wanzelius). Der minderjährigen Helferin wurde so lange ein Vertrag und das Bildnis des Pastors Flake auf die Nachtkommode gelegt, bis sie unterschrieb. Dies wurde aber von ihrem Vater annulliert, worauf die Schwestern ihr immer noch nachstellten.

HOHE FLUKTUATION DER MITARBEITERN, AUCH FLUCHT VON SCHWESTERN INS AUSLAND WEGEN DER ZUSTÄNDE

Im Verlauf der Dokumentation wird die hohe Fluktuation der Mitarbeiter beschrieben, was Dr. Nicole Schweig jedoch auf die schlechte Bezahlung schiebt. Das stimmt aber nicht, denn die Personalfluktuation wird bereits in Berichten im Forum Romanum beschrieben, z.B. in einem Bericht, in dem Kinder im Klo an Stühle gefesselt wurden, worauf die Mitarbeiter sofort von ihrer Arbeitsstelle flüchteten. Oder in Berichten, die mir Heiderose Wanzelius zukommen ließ, etwa, dass junge Diakonissen die Zustände nicht mehr aushielten und ins Ausland flohen. Die hohe Fluktuation der Mitarbeiter bezieht sich daher immer auf die Zustände im Seehospiz, da viele dies seelisch nicht ertragen konnten. Gleichzeitig waren die jeweiligen Heimleiterinnen der Häuser wie Furien in ihrer Personalführung und verstießen gegen jedes Arbeitsrecht – so in 1985, als ein Helfer entlassen wurde, nur weil er beim Händchenhalten mit einer Schwesternschülerin auf der Promenade erwischt wurde. Es folgte ein Prozess vor dem Arbeitsgericht, auch die Gewerkschaft Verdi schaltete sich ein.

PAUSCHALES LEUGNEN UND SCHÖNREDEN DER VERHÄLTNISSE DURCH INTERVIEWTE SCHWESTER L. L. UND OBERIN

Im folgenden Interview mit der Oberin des Mutterhauses Renate Kätsch (Sr. R. K.), ab S. 132, wird die Gemengelage aus Missbrauch und Streitigkeiten von ihr heruntergespielt und teils pauschal bestritten. So behauptet sie, dass die Schwestern einen Vertrag unterschreiben mussten, in dem sie sich einverstanden erklärten, dass, wenn sie beim Zuschlagen erwischt würden, die sofortige Entlassung die Folge wäre. Allein die Tatsache, dass es überhaupt solche Vertrags- klausel gab, spricht Bände. Schläge und andere Gewaltanwendung gegen Kinder waren jedoch an der Tagesordnung und sind an vielen Stellen ausführlich dokumentiert, nicht zuletzt von der ehemaligen Mitarbeiterin. Zugleich spricht die Oberin den vielsagenden Satz: “…. dass über die Jahre hinweg immer wieder ehemalige Patienten mit ihren Therapeuten nach Norderney kamen, um vor Ort Klärung zu finden” – quasi als Traumaaufarbeitung. Nun ist es so, wenn sich psychisch kranke Menschen, zusammen mit ihren Therapeuten, extra schon die Mühe machen, aus therapeutischen Gründen die teure Reise ins Seehospiz anzutreten, dann müssen doch schon schwere Gründe vorliegen. Warum fällt ihr dazu nichts ein?

VERDACHT AUF ILLEGALE VERGABE VON PSYCHOPHARMAKA.- FOLGE: NEUROLEPTISCHE STÖRUNGEN IM ALTER UND ERINNERUNGSVERLUST

Auch waren über die Jahre hinweg immer wieder Patienten aus dem Seehospiz direkt in Bad Harzburg gewesen, etwa in 2016 ein alias “Günther König”. Dann ein Sozialarbeiter aus Bremen, ein Georg. B., der sogar mit der Oberin eine Aufarbeitungsvereinbarung traf – sie wurde aber nie eingehalten. Danach in 2017 ein alias “Hans-Dominik Bell”, damals 3 Jahre alt, mit der Rechnung für das Neurolepticum Atosil, das eigentlich nur für erwachsene Patienten mit ausdrücklich psychiatrischer Indikation zugelassen ist – was hat es überhaupt in einem Kinderheim zu suchen ?? In der Folge klagt er über fortdauernde Störungen mit “Verhaltensauffälligkeit”, wodurch er frühverrentet wurde, ein “Betreuer”, sprich Vormund, ist heute für ihn zuständig. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Stefan M. aus Solingen durch seinen Aufenthalt im Seehospiz im Jahr 1973., heute ebenfalls “verhaltensauffällig”, samt Betreuer. Ebenso beklagt sich ein Frank M. im vorangehenden Eintrag “1974/75” über das Atosil, das nie und nimmer an Asthmatiker verabreicht werden darf – er hat dies mit einem Beleg dokumentiert.

Laut Dokumentation auf S. 130 wurde für das Jahr 1951 auch Luminaletten / Luminal verabreicht, ein hochgefährliches und vor allem äußerst süchtig machendes Antiepilepticum, was zudem Entzugserscheinungen verursacht. Zu kritisieren ist aber, dass zwar auf das Medikament als Barbiturat hingewiesen wird, es fehlt aber ein Kontext zum Hintergrund. Die Geschichte hinter dem Medikament ist nämlich grausam, da es unmittelbar für die Euthanasie an Kindern steht: https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/1999/daz-41-1999/uid-9156 Mögliche Folge der Vergabe von Sedierungs- mitteln und Psychopharmaka sind auch Erinnerungsverluste, worüber alle klagen. Dies ist auch eine Frage, die Juristen interessieren dürfte: Durch das Auslöschen der Erinnerung war auch keine unmittelbare Beweisführung für die Kinder möglich, Eltern war es darum in vielen Fällen verwehrt, Anzeige zu erstatten.

Im Grunde zeigt dies zum ersten Mal deutlich, dass das Seehospiz solche Medikamente eindeutig zur Steuerung der Wirtschaftlichkeit einsetzte, um innerhalb eines definierten Zeitraums von 6 – 12 Wochen eine “Kur” erfolgreich beenden zu können – auch gekoppelt mit Gewichtszunahme, was in der Natur solcher Medikamente lag. Um die permanente Unruhe der Kinder und ihre psychischen Probleme zu stoppen, hätten nämlich Baldrian & Co. niemals ausgereicht, auch mussten die Kinder den Widerstand gegen die Kur aufgeben, damit ein Erholungseffekt eintrete – so die überholte Wellness-Doktrin. Der Verdacht liegt also nahe, dass es sich um vorsätzliche Falschvergabe handelte, da heutzutage der Beipackzettel einen altersgemäßen Einsatz der Medikamente nur für Erwachsene vorsieht und auch Hinweise auf schwerste Nebenwirkungen beim Einsatz für Jugendliche unter 18 Jahren gibt, und generell für Kinder mit Asthma nicht erlaubt. Ebenso wird der Einsatz zum Sedieren oder zum Einschlafen untersagt – so auch die Auskunft eines Beraters der Herstellerfirma Neurexpharm, welches das gleiche Medikament mit dem Wirkstoff Promethazin vertreibt. Aufgrund der hohen Effizienz der Medikamente geschah dies aber alles trotzdem.

Mit anderen Worten: Die gesamte Medikation mit Psychopharmaka und sonstige Behandlung im Seehospiz muss dringend auf den Prüfstand, dies kann nur durch eine unabhängige und vor allem interdisziplinäre Wahrheitskommission erfolgen. So wie die jetzige Kommission mehr oder minder im Sinne der Diakonie nach Zufallsfunden in Archiven gearbeitet hat, kann man nur noch von Verharmlosung und Schönreden und letztlich von Vertuschung der Fakten sprechen. .

AUCH DIE VERGEWALTIGTE “BRIGITTE” AUS DEM HEIM IN BAD SACHSA BRINGT DIE OBERIN NICHT AUS DER FASSUNG

Dann vor drei Jahren war die vergewaltigte “Brigitte” aus dem Heim in Bad Sachsa bei Renate Kätsch, worauf vor wenigen Wochen der NDR-Journalist Michael Hollenbach (siehe vorangegangenen Bericht zu seinem Podcast: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Die-Traumata-der-Verschickungskinder-Es-geht-nur-darum-zu-ueberleben,audio920398.html) bei ihr vorsprach. Auch wenn “Brigitte” aus einem anderen Heim ist, zeigt dies nur, mit welcher “Distanziertheit” die Schwestern bislang auf sexuelle Übergriffe reagierten und dass die Oberin alles kalt lässt. Sie kam nie auf den Gedanken, selbst über die ihr zugetragenen schlimmen Zustände zu recherchieren, geschweige denn, sich zu entschuldigen. Umgekehrt muss man sich fragen, warum hat der Vorstand der Diakonie, Hans Joachim Lenke nicht intensiver auf die Schwestern eingewirkt und sie mit den Geschehen konfrontiert ? Ein Wille zur wirklichen Aufarbeitung sieht anders aus !!

KEINE HINWEISE IN DER DOKUMENTATION – DIE FRAGE NACH DEM VERBLEIB DER KRANKENAKTEN

Außerdem fehlt die Information, ob überhaupt Krankenakten geführt und wie lange sie aufbewahrt wurden oder aufbewahrt werden mussten, oder wo die Akten gelandet sind und warum sie entsorgt wurden, oder ob sie möglicherweise noch in einer Forschungsstelle der Ärzte zu finden sind. Man sieht also, dass Dr. Nicole Schweig ohne vorangehende inhaltliche Thematisierung wahllos Gespräche geführt und nicht die richtigen Fragen gestellt hat. Zweitens merkt man auch, dass sie nicht viel mehr drauf hat als an der Volkshochschule in Hamburg als Prüfungskoordinatorin für Deutsch als Fremdsprache, in den Stufen B2 – C2. Organisation und Durchführung von Prüfungen zu arbeiten. Zumindest hätte sie wegen der Sperrfrist einige der wichtigeren Texte genau abschreiben müssen.

FORDERUNG NACH EINER UNABHÄNGIGEN WAHRHEITS- UND AUFARBEITUNGSKOMMISSION

Deshalb hat die Zeugin Heiderose vor, nochmals mit der ehemaligen Sozialministerin Reimann sprechen. Ebenso müssen die Parteien im Landtag angesprochen werden. Ziel sollte es sein, eine unabhängige Kommission für die Aufarbeitung einzusetzen, da der Aufarbeitungswille der Diakonie allein als Auftraggeber zu einseitig und parteiisch ist. Immerhin fehlt es bis heute an einer exemplarisch wissenschaftlichen Aufarbeitung der Traumata der immer noch Betroffenen, auch Aufarbeitung schon dokumentierter Fälle. Dies ist auch nicht durch statistische Erhebungen möglich, sondern nur durch qualitative Erhebungen in Form von Tiefen- interviews in Vergleichsgruppen mit gesunden und heute noch kranken Menschen. Weiter gehört eine Befreiung der Therapeuten von ihrer Schweige- pflicht dazu. Zu diesem Zweck hatte ich auch eigens ein Aufarbeitungsmodell erstellt, das der Diakonie bereits seit dem 21. März vorliegt, auf das sie aber bislang nicht reagiert hat. Dieses wird ihr jetzt Ende September von der Beauftragten für die Kinderheime in Niedersachsen, von Sabine Schwemm erneut in erweiterter Form vorgelegt

KRITIK AN DER SELBSTERNANNTEN AUFKLÄRERIN DER NATION, DER AUTORIN ANJA RÖHL

Insgesamt macht sich hier der äußerst vage Aufarbeitungsgedanke der Autorin Anja Röhl negativ bemerkbar, die wider besseres Wissen jede Form von inhaltlichen und thematischen Vorgaben für das Seehospiz ablehnte, abgesehen von der Geschichte mit der angeblichen NS-Vergangenheit in ihrem Buch: „Das Elend der Verschickungskinder“. Der „Wissenschaftliche Beirat“ der Initiative, mit Mitgliedern vom Seehospiz, hatte sich nämlich schon früh im Streit von ihr getrennt. Wie sich nun der “hingenuschelte” Kommentar von Anja Röhl zu der von ihr selbst initiierten Dokumentation anhört, kann man hier nachlesen: https://verschickungsheime.de/neue-studie-der-diakonie-niedersachsen/

Dazu mein Post im Forum für systemische Psychologie, der sich intensiv mit ihrem Buch befasst, siehe letzter Kommentar vom 13.08.2021 https://systemagazin.com/das-elend-der-verschickungskinder/#comment-12256

EVANGELISCHE KIRCHE STEHEN IN DER PFLICHT UND VERANTWORTUNG

Letztlich stehen die Diakonie und die Schwestern in Bad Harzburg beispielhaft für noch existierende Rechtsexponenten ehemaliger Kinderheime in der alten BRD. Wenn die Aufarbeitung nicht gelingen sollte, wird auch die historische Tatsache der Verschickung von insgesamt 10 Millionen Kindern nie wirklich gelöst. Der Aufarbeitung des Seehospiz als größtes Heim Deutschlands kommt also eine entscheidende Bedeutung zu. Immerhin hat die vorliegende Aufarbeitung von Dr. Nicole Schweig tatsächlich gewichtige Fakten zu Tage gebracht, es fehlt aber der zusammengehörige Kontext, sodass die Traumata und die medizinische Fehlbehandlung der damaligen Kinder tatsächlich zu verstehen sind. Ich hoffe aber, die von ihr hinterlassenen Lücken weitestgehend geschlossenen zu haben.

Die evangelische Kirche steht jetzt in der Pflicht, a) eine offene, unparteiische und interdisziplinäre Aufarbeitung zuzulassen / zu initiieren und b) sich um die Schicksale der heute immer noch Betroffenen zu kümmern. Dazu ein lesenswerter Artikel auf der Seite des Vereins “Arbeitsgemeinschaft Verschickungskind”:, der sich mit dem “ausgeprägten” Willen der evangelischen Kirche und ihrer Verbände zum Thema Aufarbeitung auseinandersetzt: https://verschickungskind.de/2021/06/21/verlassen-unter-evangelischem-dach/

Medienanfragen und sonstige Anfragen an: nc-toussabr(at)netcologne.de Auch beim Zitieren aus dem Text bitte ich, die Urheberrechte zu wahren.

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