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Sedierung mit Neuroleptika im Naturheilbetrieb Seehospiz auf Norderney

In der Petition zum Seehospiz der 60er bis 80er-Jahre wird der Einsatz des Neuroleptikums Atosil mit dem Wirkstoff Promethazin beschrieben. Atosil half unter anderem bei medizinischen “Ausreißern“, also plötzliche und sehr schwere Erkrankungen auch bei völlig gesunden Kindern, wie sie für das Seehospiz typisch waren. Zum Thema Neuroleptika haben wir mehrere Originaldokumente als PDF beigefügt.

Den Anfang machen ausgesuchte Statements von Dr. h. c. Peter Lehman aus Berlin, Autor der Reihe:

„Schöne neue Psychiatrie“ zu dem Neuroleptikum Atosil mit dem Wirkstoff Promethazin.

Die gesammelten Erkenntnisse zu Promethazin stammen aus seinen beiden Büchern, veröffentlicht im Jahr 1996: www.antipsychiatrieverlag.de/snp1 und www.antipsychiatrieverlag.de/snp2 Hier geben wir

unkommentiert die originale Stellungnahme von Peter Lehman über die Spätschäden wieder: PDF 2

Weiter ein Bericht aus Schwesternzeitschrift bezüglich Atosil bei 2-jährigem Kind im Jahr 1965: PDF 4

Zwei Originalbelege aus dem Seehospiz – Rechnung für Kur und Medikamentenplan und Atosil: PDF 5, PDF 6

Spätschäden der Kur, hervorgerufen durch frühkindliche Schocks und Atosil bei 3-jährigem Kind: PDF 7

Um jedoch zu verstehen, warum solche Neuroleptika, die aus heutiger Sicht für Asthmatiker und Kinder ohne psychiatrische Indikation gar nicht zugelassen sind, überhaupt eingesetzt wurden, muss man sich das Geschäftsmodell und die inneren Strukturen des von den Bad Harzburger Diakonissen betriebenen Heims genauer anschauen. Das Seehospiz als “maritime Heilmarke” ruhte demnach auf drei Säulen:

auf einer rein medizinischen Basis mit angegliedertem Krankenhaus, ausgestattet nach Stand

der damaligen Wissenschaft – hauptsächlich für Kinder mit Asthma und Neurodermitis.

auf einem Standart-Kurbetrieb mit maritimer „Kinder-Klimakur“ und mit religiös erzieherischen

Elementen in der Tradition der westpreußischen pietistischen Rettungshäuser nahe Stettin.

auf einer hochkomplexen Thalassotherapie für die äußere Repräsentanz des Seehospiz im

Sinne seines Gründers Friedrich Wilhelm Beneke und Chefärzte wie Prof. Wolfgang Menger.

Diskrepanz zwischen der maritimen Heilmarke Seehospiz und Wirklichkeit (siehe auch Petition).

Es bestand vor allem eine große Diskrepanz zwischen der rein medizinischen Auslegung der maritimen Asthmatherapie und den Betriebsbedingungen eines Kurheims der 60er- bis 80er-Jahre, wo u. a. zu wenig und oft fluktuierendes weltliches Personal einer immer geringer werdenden Zahl von Diakonissen in einem immens großen Kurheim mit bis zu 450 Kindern – 75 Kinder / “Pavillon” – gegenüberstand. Das alles griff im Alltagsbetrieb nicht reibungslos ineinander; die Ressource Kind ließ sich nicht ohne Wider-stand ausbeuten, vor allem nicht ohne Heimweh, ohne Würgen und Erbrechen, ja sogar ohne plötzliche Asthmaanfälle auch bei gesunden Kindern, und vor allem nicht ohne direkte Folgen und Spätschäden.

Hier kommt “Atosil” ins Spiel, ein niedrigpotentes Neuroleptikum und H1-Antihistaminikum der ersten Generation mit dem Wirkstoff Promethazin. Dies wirft die Frage auf, ob die Verwendung des Atosil im Seehospiz (in anderen Heimen) so etwas wie eine Garantie war, die den großindustriellen Betrieb dieser weithin schädlichen “Kinder-Klimakur” überhaupt erst möglich machte. Um dies zu klären, erstellen wir eine Rekonstruktion der historischen Realitäten des Heims, um seine inneren Strukturen besonders im Pflegebereich genauer auszuleuchten. Ziel ist es, auf Missstände hinzuweisen, die im Grunde nur mittels spezieller Neuroleptika zu beheben waren. Erwünschter Nebeneffekt: die Gewichtszunahme der Kinder!

Letztlich, was seine “Programmierung” anbelangt, konnte das Atosil alle störenden physiologischen und psychologischen und damit auch betrieblichen Probleme während der “Kur” auf einen Schlag beseitigen – und das nur wegen seiner vielen unspezifischen Nebenwirkungen: Atosil sedierte schon in kleinsten Dosen, half beim Einschlafen (heute streng verboten), stoppte Heimweh, stoppte Schwindel, Würgen und Erbrechen (täglicher Dauerzustand der Kinder), stoppte Angst- und Panikattacken, half gegen Allergien und dämpfte somit auch die allergische Überstimulation der Bronchien und sogar plötzliche Asthmaanfälle auch bei eigentlich gesunden Kindern → siehe bei Google: Seehospiz Forum 1974/75.

Damit stellt sich auch die Frage, ob mittels der reizlindernden Wirkung des Atosil auf die Bronchien die maritime Heilung oft nur simuliert wurde und somit auch eine irreguläre Heilung möglich war. Beispiel-weise waren die Kinder im Winter direkt an der Brandung oftmals einer für sie zu kalten und salzhaltigen Luft ausgesetzt, sie husteten stundenlang vor sich hin und überdrehten regelrecht. Im Grunde mussten hier spezielle Mittel eingesetzt werden, um die Kinder wieder beruhigen zu können, zudem musste das Brennen der Bronchien gedämpft werden. Alle hier zitierten Abläufe sind jedoch nur eine Rekonstruktion des früheren Geschehens, einige Dokumente weisen aber genau in die Richtung → PDF Textanfang.

Diese Dokumente stehen zweifelsfrei für ein sehr fragwürdiges medizinisches Heilen, wo etwa plötzliche Panikattacken bei einem 3-jährigen Kind behandelt wurden – nach zwangsweise Stopfen mit Essen und Erbrochenes essen müssen, mit Gabe von 70 ml Atosil und dazu Sulfonamid wegen verseuchter Lunge. Dann Heilpläne aus einer Schwesternzeitschrift, wo u. a. die Heilung eines plötzlichen Asthmaanfalls bei einem 2-jährigen Kind mit 3 x 10 ml Atosil über mehrere Tage unterstützt wurde – all dies ist jedoch heute wegen des hohen Risikos einer Atemlähmung und des plötzlichen Kindstods streng verboten.

Nur, für die dauerhafte “Sedierung” mit Atosil in niedrigen Dosen fehlen noch harte Beweise, aber bis in die 1970er Jahre gab es kaum eine andere Möglichkeit. Atosil zeigt im Gegensatz zu stark dämpfenden Barbituraten wie Luminal immer nur eine mittlere sedierende Wirkung und sonst keine psychotischen Effekte oder Abhängigkeiten. Andere Nebenwirkungen waren jedoch damals kaum bekannt, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass Atosil tatsächlich als Sedativum diente, sicherlich gegeben ist – es fehlt nur die Quantifizierung. Naturpräparate wie Baldrian hätten jedoch kaum geholfen, die Kur durchzustehen.

Offene Fragen an noch lebende Diakonissen im Mutterhaus Bad Harzburg – mit Bitte um Antwort.

Offene Fragen, wie “Beruhigungsmittel” oder multifunktionale Neuroleptika wie Atosil oder „Hustensäfte“ wie Phenergan (beide mit Wirkstoff Promethazin) die „Kur“ tatsächlich beeinflusst haben, können eigentlich nur noch die heute lebenden Schwestern beantworten, die aber seit dem ersten Kontakt mit Seehospiz-Delegierten in 2016 jede Kooperation verweigern. Um die wichtigsten Fragen zu klären, rekonstruieren wir die kritischen Brennpunkte der Kur, wo im Grunde nur Atosil oder Phenergan, etc. die Hindernisse bei fehlender Pflege beseitigen konnten. Text zu „Brennpunkte“ ist hier als PDF 8 zu öffnen.

Für die 80er-Jahre wird noch die Gabe des Hustensafts „Fenistil“ (ein Antihistaminikum) als Sedativum zitiert.
https://350928.forumromanum.com/member/forum/entry_ubb.user_350928.2.1137330056.1137330056.1.wiederholungstaeter-ehemalige_kurkinder_des.html?onsearch=1.
Ohne jede Rücksicht auf Kinderrechte ging es also immer darum, den Willen der Kinder mit zweckentfremdeten Neuroleptika und „Hustensäften“ usw. zu brechen und sie für das System “Kur” gefügig zu machen. Die Medikamente heilten also nie, sie dämpften nur eine Reihe von störenden physiologischen und psychologischen Faktoren, die die Rentabilität der Kur behinderten.

Damit wurde jedoch eine Kultur der Gewalt geschaffen, die nicht kritiklos hingenommen werden kann.

Eine Schwester sagte noch im Jahr 2011 zu Besuchern des Seehospiz wortwörtlich: „Ich kann mich nur damit entschuldigen, dass wir es damals nicht besser wussten“. Letztlich stellt sich die Frage, ob hinter all der “Unwissenheit” nicht ein völlig verkrustetes System des “Heilens” steckte und die Schwestern stur an ihren traditionellen Werten der “Unterwerfung” von Kindern festhielten. Immerhin waren sie Ende der 50er-Jahre gewillt, das Antiepileptikum „Luminal“ als Barbiturat zu verbannen. Offen bleibt daher die Frage, warum die Ärzte im Seehospiz die Verabreichung der Neuroleptika so lange favorisierten.

Zumindest in den offiziellen Leitlinien der Atemwegsliga und anderen Leitlinien wie der Asthma-Leitlinie für Kinder spielten Neuroleptika nie eine Rolle, so der potentielle Nachfolger von Chefarzt Menger, Prof. Diedrich B. (Klinikum Wesel), den ich zum Thema Neuroleptika befragt hatte. Letztlich können nur ausführliche Interviews und die Freigabe aller Archive zur Klärung der Frage beitragen, warum die Ärzte und Schwestern die Rentabilität des Betriebes derart über das Wohl des Kindes stellten und rücksichts- los unhaltbare Massenkuren betrieben – unter Inkaufnahme irreparabler Schäden. Dazu gehören auch weitere Fragen, die z.B. den Heilbetrieb in den zu kalten und dunklen Wintermonaten betreffen, wo das Reizklima oft zu stark war und die Kinder im Heim (unter Sedierung?) nur so vor sich hin vegetierten.

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@schoenau
Admin
7. Oktober 2022 15:49

Lieber Bruno, auch dir vielen Dank für deine akribische Recherche.
Dass Medikamente leichtfertig zweckentfremdet wurden, um Verschickungskinder ruhigzustellen, beschränkt sich ja leider nicht nur auf das Seehospiz. Über diese Praxis wird auch aus anderen Bundesländern berichtet. Hier ein Beispiel aus Bayern: Wehrlos im Erholungsheim – Was Verschickungskinder in Bayern erlebt haben – radioReportage | BR Podcast
Berichtet wird hier u.a. auch über die Gabe von Nuran 1976 im Kloster Wessobrunn. Ein Medikament, das in den USA offenbar schon 1971 “freiwillig” vom Markt genommen worden war. Der Wirkstoff Cyproheptadin, ein Serotonin-Hemmer, macht müde und führt zu gesteigertem Appetit. Ideal also zur Förderung des Kurziels Gewichtszunahme. Dass auf den Benediktinerinnen seitens Entsendestellen bzw. Heimleitung ein erheblicher Druck lastete, den geforderten “Kurerfolg” mit allen möglichen Mitteln zu erreichen, wird von Benediktinerinnen selbst berichtet. Andernfalls drohten finanzielle Einbußen.
Beschriebene Nebenwirkungen zu diesem Medikament u.a.: allergische Reaktionen, Schläfrigkeit bzw. Benommenheit, Koordinationsstörungen, Sehstörungen, Schwindel, verfrühte Regelblutungen, Herzrhythmusstörungen u.a.m.
https://www.bukopharma.de/images/pharmabrief/Pharma-Brief_Archiv/1995-1989/Phbf1993_10_n.pdf

Bruno Toussaint
Bruno Toussaint
Reply to  @schoenau
7. Oktober 2022 20:51

Danke,

je mehr präzise Angaben über die Abläufe einer “Kur”, um so besser.

Das in der Petition erwähnte Luminal / Luminaletten (ein Antiepileptikum) hatte auch eine steile Karriere in der Nazizeit hinter sich gehabt – es wurde durch die Diakonie-Forscherin Nicole Schweig in Unterlagen für das Jahr 1951 gefunden – aber ganz harmlos nur als Barbiturat erwähnt. Ich vermute aber, dass es bis zum Contergan-Skandal weiter verwendet wurde, da man danach viel mehr auf fragwürdige Medikationen schaute.

Was das Luminal und die NS-Euthanasie-Ärzte betrifft, so gab es Mitte der 1960er Jahre erste Anklagen und Untersuchungsausschüsse, die die Patientenmorde an Kindern überhaupt erst offiziell bekannt machten und zur Erforschung des dahinter stehenden Systems führten. Was die Tötungsmethoden betrifft, so entwickelten die Ärzte für Kinder als erste Personengruppe in Nazi-Deutschland unter dem Deckmantel der Heilung ein systematisches Forschungsprogramm das sogenannte “Luminal-Schema”, d.h. welche Dosis Luminal in welchem Alter/Körperzustand des Kindes über wie viele Tage verabreicht werden musste, damit der Tod durch Atemlähmung und ggf. Lungenentzündung eintrat. Auf diese Weise konnte den Eltern eine “natürliche” Todesursache präsentiert werden.

Warum danach, d.h. nach Bekanntwerden der Prozesse um die Kinder-Tötungen mit Luminal und nach dem Contergan-Skandal, die Ärzte des Seehospiz weiterhin nicht minder gefährliche Neuroleptika wie Atosil einsetzten, sozusagen als chip-programmiertes Multitalent, um den vitalen Lebenswillen von Kindern zu unterdrücken und gleichzeitig betriebliche Abläufe zu begradigen und letztlich aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, das ist die große Frage, die aber für viele Heime in Deutschland gilt. 

Noch in den 1980er Jahren wurde der “Hustensaft” Fenistil für eine solche fragwürdige Sedierung verwendet, was ebenfalls den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt. Unten im Link der erste Bericht von Clemens W., wo er auch auf Medikamententests hinweist. Auch in der Dokumentation der Diakonie ist von Medikamententests im Seehospiz die Rede, Nicole Schweig erklärt sie aber als ethisch vertretbar. Ich selbst habe im Frühjahr 1965 eine ganze Reihe von Tests auf Inhalationsmittel erlebt, aber der HNO-Arzt zu Hause hatte die Medikamente gleich wieder abgesetzt. 

https://350928.forumromanum.com/member/forum/entry_ubb.user_350928.2.1137330056.1137330056.1.wiederholungstaeter-ehemalige_kurkinder_des.html?onsearch=1

Danach beschrieb mir Clemens das Delikt der Körperverletzung nochmals genauer:

“Prinzipiell passt Fenistil als Antihistamimikum zwar zu meinem Krankheitsbild (Neurodermitis und Asthma bronchiale), aber bei meinem ersten Aufenthalt war ich 13 und damals eher untergewichtig.
 
Da wäre eine Dosis von 40 Tropfen abends zum Einschlafen eventuell noch zu vertreten gewesen, aber 3 x täglich diese Dosis und du läufst durch die Gegend wie ein dauermüder Zombie.
 
OK, es juckt natürlich weniger und man kratzt sich auch nicht so oft – so kann man auch “heilen”.
 
Und ja, Fenistil wurde damals recht freizügig bei den Allergikern und Neurodermitikern verteilt. War ja für Kinder zugelassen und der sedierende Nebeneffekt wurde wahrscheinlich von den Betreuern gern “mitgenommen”.
 
Ich war – wie geschrieben – 6 x im Seehospiz, zum Glück immer in Haus 1, wo es anscheinend etwas humaner zuging als in Haus 6. Die zuständige Nonne war eine Sr. Stella von Natzmer, die zwar sehr streng war, aber zumindest gab es keine Ekelszenen wie Erbrochenes aufessen.
 
Medizinische Unterlagen habe ich leider keine mehr gefunden, daher kann ich mich nur auf meine wenigen verbliebenen Erinnerungen berufen.
 
Liebe Grüße,
 
Clemens