
Stoppt Gewohnheitsgehorsam!
9. und letzte Station der Aufarbeitung
„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ (Mark Twain zugeschrieben)
Verschickungskind gewesen zu sein und dieses Geschehen verarbeiten zu wollen, zwangen mich,
Abläufe des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit ab 1945 näher zu betrachten. Mein bisheriges Bild von Biografien der Elterngeneration sowie der jungen deutschen Nachkriegsdemokratie wurde durch meine Recherchen verändert. Ich habe verstehen lernen müssen, dass die massiv gesteuerte nationalsozialistische Ideologie intensiv in den Köpfen und Gefühlen der Menschen angekommen war. Ein ebenso systemisch wirkendes, aber demokratisches Gegengift konnte durch die vierjährige Entnazifizierungs- und Bildungspolitik der Alliierten nicht verankert werden. Durch inhaftierte NS-Kriegsverbrecher waren große personelle Lücken in den staatlichen Verwaltungen entstanden. Darum wurden viele vorzeitig aus der Haft entlassen (siehe 8. Station). Alte Seilschaften konnten offiziell in ihren Büros ihre vorherige Arbeit fortsetzen. In den Kinderheimen war das Personal aus der Nazizeit meist verblieben oder unausgebildetes Personal eingestellt worden (siehe 6. Station). Der Gewohnheitsgehorsam ging weiter seinen Weg.
Stephan Grigat, Publizist, Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft, Universität Wien, 2011:
„Der Begriff des Postnazismus und der früher geläufigere Begriff des Postfaschismus versuchen
die Tatsache zu fassen, dass 1945 zwar das Morden geendet hat, aber nicht die vielbeschworene ‚Stunde Null‘ stattfand.“ „Postnazismus“ – diese Bezeichnung musste ich für die bisher von mir nur als „Nachkriegszeit“ bezeichnete Epoche ab 1945 neu hinzulernen. Daraus leite ich ab, dass nach Kriegsende ein verbreitetes Einwirken verinnerlichter NS-Ideologie weiterhin im Alltag stattfand, trotz des äußerlich neu entstandenen, demokratisch verfassten Staats. Mich hat das Ausmaß an wiederbeschäftigtem NS-Personal (die „Tanten“ waren ja nur ein Teil davon!) sowie der lange Nachkriegs-Zeitraum (bis mindestens Ende der Sechziger Jahre: Student:innenunruhen) tief getroffen; auch wenn mir heute klar ist, dass ein derart radikaler gesellschaftspolitischer Umstellungsprozess viel Zeit erfordert. Nun fühle ich mich rückblickend geradezu naiv mit meinem bis vor kurzem noch empfundenen historischen „Sicherheitsabstand“ meiner Generation zu NS-Ideologie, Kriegsgräueltaten und Auschwitz. Auf welch dünnem demokratischen Eis wuchs ich auf!
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ schrieb Bertolt Brecht in seiner Dreigroschenoper in einem anderen Zusammenhang; doch mir kam plötzlich in den Sinn: Die Grundrechte der Demokratie für alle Mitglieder der Gesellschaft umsetzen zu können – für die „Würde des Menschen“, die das Grundgesetz 1949 meinte: da war die Zeit nach NS-Rassismus und seinen Massenmorden gar nicht reif. Ein Bewusstsein der Kriegskinder für strukturelle, institutionelle Gewalt, für Gewohnheitsgehorsam, falsche Autorität und Missbrauch hatte es wegen mangelnder Reflexion der NS-Zeit für längere Zeit in Deutschland nicht gegeben: Dem Aufbau der Wirtschaft galt allgemein hohe Aufmerksamkeit und den Auswirkungen des Kalten Krieges.
Wir Kinder der Kriegskinder aber bekamen dieses unverarbeitete NS-Kriegserbe unserer Elterngeneration mit in die Wiege und unser weiteres Leben gelegt. Meine biografischen Prägungen durch weitergereichte Härte und Kälte, erlebt vor allem als Verschickungskind, beginnen sich nun einzuordnen: Ich wurde in einer postnazistisch geprägten und wirtschaftsprofitorientierten Gesellschaft zum Opfer verdrängter bzw. mit kalkuliertem Risiko bewusst hingenommener institutioneller Gewalt inmitten eines demokratischen Staatsgefüges. Ich bin ein ehemaliges Verschickungskind von mehreren Millionen betroffenen Kinderkurteilnehmer:innen; aus diesem Grund handelt es sich um einen noch zu klärenden Skandal deutscher Nachkriegsgeschichte. Die einzelnen Bundesländer mit ihren zuständigen Ministerien (Gesundheit, Familie) sowie alle betroffenen Träger der Kindererholungsheime (darunter besonders die Ev. Kirche, siehe 6. Station) sind in der Pflicht, finanzielle und pädagogische Verantwortung für die vielfache Gewalt unter ihren Dächern zu übernehmen: Forschungsfinanzierung, Einrichtung einer Anlaufstelle, Archivöffnungen und Klärung von Entschädigungsfällen gilt es konsequent in die Tat umzusetzen.
Weil ich in den Sechziger Jahren ein Verschickungskind war, bin ich zur Zeitzeugin einer überraschend lange andauernden deutschen Nachkriegsgeschichte geworden. Glück im Unglück: Im Laufe der Jahre entwickelte sich eine funktionierende Demokratie in unserer Gesellschaft. Unsere Kinder und Kindeskinder müssen weitererzählt bekommen, dass die lange Friedenszeit, unsere pluralistisch bunte Demokratie und soziale Marktwirtschaft nicht selbstverständlich bzw. keine Selbstläufer waren und sind, jedoch die Garanten vieler unserer als normal erlebten Freiheiten und Sicherheiten. Ein unkritischer Gewohnheitsgehorsam ist gefährlich! Ich musste an dieser Stelle auch an die römischen Kaiser der Antike denken. Sie sollen bereits gewusst haben, dass ein zufriedenes Volk „Brot und Spiele“ brauche – Wagenrennen, Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe waren damals beliebte und häufige Massenveranstaltungen. Könnte es sein, dass eine Demokratie weniger attraktiv erscheint als „die starke Hand“ einer Diktatur, mit ihren emotionsgeladenen „Shows“, der Begeisterung und Bequemlichkeit im Denken? Jürgen Wiebicke, Schriftsteller und Philosoph, spricht von der gefährlichen inneren Einstellung, jedes Gefühl gleich ausleben zu wollen. Er betont die Bedeutung der Erfahrung, einen Kompromiss miteinander finden zu können. Im Teamwork, also in gegenseitiger Offenheit und Toleranz miteinander zu arbeiten, stärkt Menschen meiner Erfahrung nach in ihrem Selbst und als Gemeinschaft. Dies bringt in Folge alle voran.
http://www.nolympia.de/kritisches-olympisches-lexikon/brot-und-spiele/
Durch die Thematik der Verschickungskinder kommt die Auseinandersetzung mit der Brutalität und hohen Emotionalität der Hitler- und II.Weltkriegsjahre wieder in die Öffentlichkeit. Außerdem fällt ein Blick auf schon aus preußischer Zeit stammende Tugenden wie Ordnung, Gehorsam, Disziplin sowie Obrigkeitsgläubigkeit (Bismarck, Kaiser Wilhelm z.B.), die vom NS-Staat als bereits im Volk verankert genutzt werden konnten. Für die Aufarbeitung der Erfahrungen der Gewalt an Kindern in ehemals beiden deutschen Staaten, die oft lebenslang begleitenden Folgen und dem damit verbundenen wirtschaftlich erfolgreichen Gesundheitstourismus brauchen wir eine lebendig erzählte, Kindern und Jugendlichen verständliche Erinnerungskultur: um Kopf und Herz zu bilden sowie Selbstvertrauen zu fördern statt unkritischem Gewohnheitsgehorsam. Organisationen, mit denen ich mir eine thematische Zusammenarbeit zum Thema Verschickung wünschen würde, wären zum Beispiel: Stiftung Erinnerung-Verantwortung-Zukunft; Anne-Frank-Zentrum; Bundeszentrale für Politische Bildung, Bereich Geschichte für Kinder; Interaktiv arbeitende Kindermuseen mit (Wander-) Ausstellung; Arbeitsgemeinschaft f. Kinder- und Jugendhilfe (Anlaufstelle nach ‚Runder Tisch Heimerziehung‘)
UnbedachtenGewohnheitsgehorsam kann ich nur ablegen bzw. meine innere und äußere Freiheit kann ich erst gestalten, wenn ich verstehe, was vernünftigen Umgang mit Macht auszeichnet und woran ich das Gegenteil erkenne. Petra Morsbach, Regisseurin und Schriftstellerin, erklärt es so:
„1. Macht ist weder gut noch böse, sondern ein Strukturelement, ohne das komplexe soziale
Gebilde nicht funktionieren. Man sollte sie (…) als Aufgabenteilung sehen und die Mächtigen daran messen, ob und wie sie ihre Aufgaben erfüllen. Das ist auch die zivile Norm.
2. Machtmissbrauch ist ein Verstoß gegen die Norm. (…) In der Realität aber wird er (…) oft einfach hingenommen. Dann bildet sich um ihn ein Mikroklima, indem alle so tun, als gäbe es ihn nicht, wodurch er selbst zur -geheimen- Norm wird.
3. Macht verändert das Selbstbild derer, die sie innehaben. Einige neigen dann zu Selbstüberschätzung und Rücksichtslosigkeit. (…) Erst wenn Korrektur ausbleibt, entsteht gewohnheitsmäßiger Missbrauch mit Dosissteigerung und Suchtverhalten.“
„Der Sinn. Die moderne abendländische Gesellschaft stellt den Menschen in einen nie da gewesenen Rahmen von rechtlicher Sicherheit und Partizipation….Je gerechter eine Gesellschaft, desto differenzierter und anspruchsvoller ist sie, und es bleibt mühsam, sie gegen die immer gleichen Dummheiten und Begehrlichkeiten zu verteidigen. Der Lohn dieser Mühe ist eine kostbare Kultur von Freiheit und Aufrichtigkeit.“
Petra Morsbach, Der Elefant im Zimmer, 2020. S.314;S.322
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Buch-Tipp zur praktischen Unterstützung einer eigenen Aufarbeitung:
U.Baer/G.Frick-Baer: Kriegserbe in der Seele, 2020, Beltz Verlag
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