Aufarbeitung

Verlassen unter evangelischem Dach

6.Station der Aufarbeitung

Um 7:20 Uhr fuhr der Zug mit mir, dem 6jährigen Mädchen, den Sammeltransportbegleiterinnen (auch „Fürsorgerinnen“ genannt- z.B. pensionierte Kindergärtnerinnen) und vermutlich anderen Verschickungskindern los. Ich nehme an, dass wir öfter umsteigen mussten. Ich erinnere mich nicht an den Anreisetag, da ich -wie von damaligen Kinderfachärzten empfohlen – erst beim Wecken morgens von meiner Reise erfuhr und vermutlich überrumpelt vom Geschehen war. Ich las, dass die Kinder mit Schildern um den Hals im Zug verteilt saßen, dort, wo für sie ein Platz reserviert worden war. Die Fürsorgerinnen liefen in Abständen durch die Waggons, um nach den Kindern zu sehen. Mein noch vorhandenes Schild nennt als planmäßige Ankunftszeit 15:13 Uhr auf dem Harzer Zielbahnhof. Die „Fürsorgerinnen“ verblieben meist im Zug. Wie die Verschickungskinder dann in die vorgesehenen Kurerholungsheime gelangten, war verschieden. Viele mussten laufen, große Gruppen hatten evtl. Glück mit einem bereit stehenden Bus. Für die ankommenden Kinder und das Heimpersonal kann ich mir anhand meines eigenen Tagesverlaufs nur Szenen von Übermüdung, großer Angst und Heimweh bei der ersten Begegnung vorstellen. (1)

Für mindestens fünf Wochen wohnte ich in einer 1958 als Kindererholungsheim umfunktionierten alten hohen Villa. Das 1908 privat erbaute Haus war nun teilweise baufällig und gehörte bereits lange der Inneren Mission, dem damals größten Evangelischen Wohlfahrts- und. Diakonieverband. Träger dieses Hauses war der „Verein zur Unterbringung erholungsbedürftiger Kinder e.V.“. Das Haus diente zuvor verschiedenen Zwecken; während des Krieges und danach wurde es vom “Hilfsbund für das Kriegsinvalidenheim HELDENDANK e.V.” genutzt. Es sollte bedürftigen Kriegsbeschädigten vorübergehend oder dauernd ein christliches Heim anbieten. (2) Von der Straße führten einige Stufen sowie ein längerer Vorgartenweg zum seitlichen Haupteingang. Es hatte 50 Betten, einen Arzt im Haus und wurde ganzjährig belegt. Unsere Tagesabläufe waren komplett durchorganisiert, es herrschte ein autoritärer Ton; es gab Einzel- und Gruppenstrafen, Ohrfeigen, Postkarten schreiben nur nach Diktat sowie einfaches, sich häufig wiederholendes Essen. Ich lernte nicht aufzufallen und mit meinem Heimweh irgendwie durchzuhalten.

Aufgrund der Diagnose „erholungsbedürftig“ war ich ein der deutschen Heim-Fürsorge befristet anvertrautes Kind. Das für staatliche und kirchliche Heime gleichermaßen gültige RJWG (Reichsjugendwohlfahrtgesetz) warseit 1922bindend; nach Unterbrechung durch ideologisch angepasste NSDAP-Gesetzgebung wegen ihrer entsetzlichen „Arierauslese und Vernichtung unwerten Erbguts“ wurde das RJWG ab 1945 erneut gültig. 1961 wurde es in „Jugendwohlfahrtsgesetz“ nur umbenannt und erst 1990 mit endlich ausformulierten Kinder-Teilhaberechten als das heutige Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) reformiert. Dr. Uwe Kaminsky, Historiker, schreibt, dass die damals übliche Heim-Fürsorgeerziehung einen Strafcharakter hatte: “Es ging um Sozialdisziplinierung …, Erziehung zur „gesellschaftlichen Tüchtigkeit“.(3) Die erlebten absichtlichen Demütigungen einzelner Verschickungskinder hatten also bereits preußische Wurzeln.

In der Nähe des Harzes liegt der niedersächsische Kurort Bad Salzdetfurth. Das zur Ev. Kirche gehörende Diakonische Werk Niedersachsen hat sich 2020 anlässlich unfassbarer Todesfälle in einer dortigen Kinderheilanstalt im Namen der Inneren Mission öffentlich bei den Verschickungskindern entschuldigt: 1969 waren während einer Verschickungskur drei Kinder (3-7 Jahre alt) zu Tode gekommen. Der Leiter dieses Diakonischen Werkes, Hans-Joachim Lenke, bestätigte aufgrund einer vorgelegten Studie, dass „Überforderung, Personalmangel und eine Verkettung unglücklicher Umstände die Ursache waren …Viele Mädchen und Jungen hätten in ihren Kuren Kälte, Drangsalierungen und Leid erfahren müssen.“(4)

Wie konnte das überhaupt, und sogar unter dem Dach der Evangelischen Kirche geschehen?

Neue Fragen drängen nach Antwort: „Überforderung, Personalmangel“ – Was war los mit dem Erziehungs-Personal dieser Zeit und nach Kriegsende? Welche Position nahm der damals größteEvangelische Sozial-Wohlfahrtsverband Innere Mission bzw. sein leitender Central-Ausschuss während des Nationalsozialismus ein? Ich war und bin grundsätzlich erfreut, auf der Website der ‚Diakonie Deutschland, Innere Mission‘ Reflexionen der eigenen Geschichte zu finden, inklusive der Jahre 1933-1945. Was ich lesen muss, verstört mich allerdings zutiefst, hier stichwortartig einige Zitate :„Mehrheitlich Kirchenpolitik der Deutschen Christen vertreten“; „Führerprinzip in der Inneren Mission eingeführt“; Aus Furcht, die Arbeit der Inneren Mission zu gefährden, 1938/39 Mitarbeit und Unterstützung für „zentrales Hilfsbüro für Judenchristen/nichtarische Christen abgelehnt”;„Kenntnis über Einsätze von Zwangsarbeitern“; …“dass Zehntausende von Patient:innen in den Einrichtungen der Inneren Mission im Verlauf der Euthanasiemaßnahmen ermordet und

zwangssterilisiert wurden.“(5)

Die wiederholt parteilichen „Eingriffe in die Arbeit der Inneren Mission bzw. eine mögliche komplette Übernahme der Inneren Mission durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)“ werden als zermürbende Belastungen genannt. Sie sollen zu einem angepassten Verhalten der Vorstände im Umgang mit der NSDAP geführt haben. „Vorstandsmitglieder wurden zwischen NSV und Innerer Mission ausgetauscht und es wurde auf verschiedenen Ebenen kooperiert.“(5)

Was für Gefühle hatten die Erzieher:innen in den Heimen angesichts der durchgeführten Euthanasiemaßnahmen an ihren Heim-Bewohner:innen ? Ich kann mir nur eine schleichend verrohende, abgestumpfte Gefühlswelt vorstellen, um solche Grausamkeiten wegstecken zu können.

Ein Beispiel aus Bremen: „Es steht außer Frage, dass die Fürsorgeinstitutionen aus dem Bereich der evangelischen Diakonie Bremens und dort beschäftigte Mitarbeiter:innen in das (NS-)Aussortierungssystem involviert waren und es mehr oder weniger aktiv unterstützten.“(6)

Die Innere Mission hatte einige ihrer Häuser der Hitler-Jugend zur Kinderlandverschickung, also ideologischem und militärischem Drill, zur Verfügung gestellt.(6). Meine Mutter erinnert sich, dass sie während ihrer BDM-Zeit für den gottgleich verehrten Führer beten musste: „Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken. Er gibt euch euer täglich Brot und rettet euch aus aller Not“. Wenn evangelische Erzieherinnen, die in Heimen der Inneren Mission angestellt waren, diese NSV-“Mission“ mittragen mussten, denke ich außerdem an religiös abgestumpfte Gefühle.

Nach Kriegsende: „In der Bundesrepublik sahen die (weiterhin überwiegend kirchlichen) Träger der Einrichtungen keine Veranlassung, das Personal zu wechseln und eine Revision ihrer Erziehungsmethoden vorzunehmen.“(7)

Carola Kuhlmann schreibt über die kommunale Jugendhilfe in Nordrhein-Westfalen :“(…) waren dort nach wie vor dieselben Menschen aktiv (…) und blieben in ihrem Amt. Weder bei Verbänden (…) noch Behörden (….) noch Erziehungsheimen änderte sich personell Entscheidendes.“ Die Kriegswirren, die vielen Todesopfer und Emigrationen führten allgemein zu Fachpersonalmangel in Kirche und Staat. Die Nichtüberprüfung vieler einzelner Mitarbeiter:innen über das, was sie während der NS-Zeit beruflich inhaltlich vertreten oder angeordnet hatten, verstärkte die festgefahrene Lage ebenso wie eine schlechte Bezahlung. (7) Meine ausgewählten Zitate stimmen im Grundton zusammen: Das pädagogische Personal war oft kriegstraumatisiert. Die meisten „Tanten“ erlebten weder therapeutische noch sozialpädagogische Fortbildungen, womit ein innerer beruflicher Neubeginn hätte ermöglicht werden können. Indem man ihnen Tausende von Kindern jahrzehntelang anvertraute und den Umgang nicht kontrollierte, konnten sich Überforderungen und Maßnahmen der Schwarz-Braunen Pädagogik etablieren. Da dies kein regionales, sondern ein gesamtdeutsches Phänomen zu sein scheint, frage ich mich, wie die ersten Nachkriegsjahre von den Besatzungsmächten diesbezüglich organisiert waren: Sie wollten doch sicherlich die Strukturen des deutschen Faschismus in jeglicher Form ausrotten, bevor sich wieder ein politisch selbständiges Deutschland aufbaut? Hat die Innere Mission (und Evangelische Kirche) aus ihrer eigenen grausamen NS-Geschichte heraus nicht gelernt, jeglicher Gewalt gegenüber Schwächeren entschieden entgegentreten zu müssen? Dass systemisch schleichendes Gift zur Unterdrückung Schwächerer unbedingt gestoppt werden muss, weil das „Führerprinzip“ krass gescheitert ist?

Gefahr von stark geregelten Gemeinschaften – Ersatzemotionen für gedemütigte Opfer?

Einige historische Ursachen sind mir nun bekannt. Das Verständnis und die geübte Unterscheidung, was aufrichtige verantwortliche Autorität auszeichnet und was nicht, scheint mir eine schwierige, teilweise ungelöste deutsche Aufgabe zu sein. Autoritätsgläubigkeit ist mir als Phänomen der Kriegskindergeneration aufgefallen. Meine Eltern z.B. vertrauten trotz absolutem Besuchsverbot in der ganzen Zeit den Kur-Versprechungen, „weil du bei der Kirche bestimmt gut aufgehoben bist“.

Umgekehrt gründet sich jede gesunde Autorität in jedem einzelnen Menschen selbst: Wenn jedes menschliche Geschöpf seine Fähigkeiten voller Selbstvertrauen entwickelt und in die demokratische Gesellschaft investiert, flankiert von kritischen Bildungs- und Kulturprozessen.

Kurz zurück zu mir: Als Erwachsene hatte ich Zwänge im Alltag entwickelt, z.B. Perfektionismus. Dies gab mir zwar Sicherheit; doch es bekam eine Eigendynamik, die mich innerlich wie in einem Hamsterrad leerlaufen ließ. Ich erwartete von mir, alle Aufgaben mit einer möglichst hundertprozentigen Lösung zu bewältigen. Motto: Anerkennung nur durch Leistung. Aus diesem Druck heraus stellte ich bald fest, dass das Leben zu hart für mich sei und hörte die alte Stimme der Angst in mir sagen: Du kannst es sowieso nicht zu einem schönen erfolgreichen Leben „bringen“. So fühlte ich mich grundsätzlich mit von Schicksalsschlägen getroffenen Menschen verbunden, war gerne in der Helferinnenrolle und wurde in eine evangelisch-missionarische Gemeinde eingeladen.

Sabine Rennefanz, Redakteurin einer überregionalen deutschen Tageszeitung und Schriftstellerin, schreibt aus eigener Erfahrung in ihrem Buch „Eisenkinder“, welch innere Leere in uns Menschen durch große Verluste entstehen kann, wie wir dann begeisterungsfähig und unkritisch auf Ersatzangebote reagieren können, egal, ob es sich um Kirchen, Parteien, Vereine oder Personen mit großer Ausstrahlung handelt. Und wie groß für sie selbst als Jugendliche die Gefahr wurde, als sie sich auf der Suche nach einem neuen Fundament für ihr Leben einer evangelisch-bibeltreuen Organisation, deren emotionaler Intensität und ihren Versprechungen anschloss: dass sie durch Mitgliedschaft neuen Sinn und tragende Gemeinschaft für ihr Leben finden würde, wenn sie sich nur fest an deren Überzeugungen halte. Danach sehnte sie sich, endlich wieder irgendwo dazu zugehören. In ihrem Fall ging das ziemlich schief, weil sie klare Widersprüche in Zusagen und Verhalten der Leitung erlebte, die sie misstrauisch machten. Es hätte sich bei ihr durch machtvolles Ausnutzen ihrer inneren Leere und aus emotionaler Bedürftigkeit heraus wieder alte Autoritätshörigkeit anstelle von neuem Selbstvertrauen breitmachen können.

Zusammenfassung: Die Recherchen haben mich erschüttert. Wie systemkonform sich viele Hauptamtliche der Inneren Mission während des Naziregimes verhalten haben. In der Nachkriegszeit waren sie einerseits wirklich erfolgreich mit ihrem wirtschaftlichen Überleben beschäftigt, wie der Staat. Doch das Wohl der ständig strömenden Kindergruppen in ihre Einrichtungen war gefährlich nebensächlich, die Werbung für Kinderkuren in ihren vielen Häusern aber enorm.(1) Das psychisch belastete Personal aus der NS-Zeit verblieb nach dem Krieg meist in den Heimen, zusätzlich war unausgebildetes Personal vom Massenbetrieb oft überfordert. Das große Thema Geld ist daher auch innerhalb der Kirche bezüglich des Verschickungstourismus noch aufzuarbeiten. Die Entschuldigung eines regionalen Diakoniewerks war und ist sehr wichtig, doch gemessen am geschilderten historischen Geschehen keinesfalls ausreichend. Dass Macht und Autoritätsgläubigkeit innerhalb der Strukturen der Evangelischen Kirche kritisch betrachtet werden, ist aus ihrer Geschichte heraus zwingend, als demokratisch geführte Institution Bedingung und theologisch in klaren Worten zu vermitteln. Heute ist sie zuständig als Nachfolgeorganisation der Inneren Mission, muss Forschung, Beratung und Erinnerungskultur zur Aufklärung der Gewalt an Verschickungskindern unter ihrem Dach finanziell und räumlich unterstützen. Sie steht wie der Staat in zeithistorischer Verantwortung wegen institutioneller Gewalt und Vertrauensmissbrauch gegenüber Millionen damals autoritätshöriger gutgläubiger Eltern und Millionen schutzbefohlener Kinder.

Ausblick: Im Laufe meines Lebens bin ich vielen klugen, aufrechten Christ:innen begegnet, Gott sei Dank. Es gab und gibt sie, kraftvolle persönliche Begegnungen und solidarischen Zusammenhalt im Raum der Kirche. Zwei Beispiele: Die Evangelische Kirche der ehemaligen DDR hat z.B. breitgefächerte Unterstützungsarbeit für die bürgerliche gewaltlose Revolution geleistet, die zum Fall der Mauer in Berlin führte. Es gelang, weil sie viele ihrer Mitarbeiter:innen, ihrer Gebäude und Räume, ihre Technik (Mikrofone, Kopierer z.B.) der Opposition zur Verfügung stellten. Ich schätze den Deutschen Evangelischen Kirchentag in seiner Weite und Offenheit sowie dem respektvollen

Miteinander sehr. Doch ich war gezwungen zu lernen, dass es komplett zu unterscheiden gilt: Eine persönlich entwickelte Haltung gelebten Glaubens ist das Eine. Das öffentliche Gebaren der Ev. Landeskirche war und ist oft etwas ganz Anderes. Es gab und gibt leider immer wieder empörende, teils finanziell verwirrende Realitäten innerhalb der Institution Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die ihre Glaubwürdigkeit massiv untergraben. All dies führte unausweichlich dazu, dass viele Menschen tief verletzt wurden und werden, sich wehren und abwenden: Verlassenheit. Verlassene Evangelische Kirche.

(1)Lorenz, Hilke: Die Akte Verschickungskinder, 2021, S.35f, S.50f, S.47

Röhl, Anja: Das Elend der Verschickungskinder, 2021, S.38

(2)Persönliche Auskunft vom Stadtarchiv des Kurortes 02/2021

(3) Kaminsky u.a.: Menschenrechte und Soziale Arbeit im Schatten des Nationalsozialismus, S.69

(4) https://www.diakonie-in-niedersachsen.de/pages/presse/pressemeldungen/subpages/diakonie__verschickungskinder_mussten_kaelte_und_leid_erfahren/index.html

https://taz.de/Drei-tote-Kinder-und-eine-bittere-Erkenntnis/!5728835/

(5) https://www.diakonie.de/innere-mission

Peter Hammerschmidt: Die Wohlfahrtsverbände in der NS-Zeit, 1999, S. 195 ff

(6) http://kultur-und-transfer.de/wp-content/uploads/2015/11/Bremer-Jugendhilfe-und-Jugendf%C3%BCrsorge-in-der-NS-Zeit_Stand_22_2_2016.pdf

https://de.wikipedia.org/wiki/Diakonisches_Werk_Bayern

(7)Kappeler/Hering:Eine Einführung zur Geschichte der Kindheit und Jugend im Heim, 2017,S.16

Carola Kuhlmann: Erbkrank oder erziehbar?1989, S.246

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