
Vorgängermodell Kinderlandverschickung
5.Station der Aufarbeitung
Bereits vor 1933 gab es unter diesem Namen Ferienreisen aufs Land als Erholungsaufenthalt für Stadtkinder. Die Nationalsozialisten verharmlosten mit dem Begriff „Erweiterte Kinderland-verschickung“ ab 1940 ihr eigentliches Ziel: Die Kinder an die Ideologie des Staates zu binden, fern von Eltern und religiösen Traditionen. Doch viele Eltern zögerten mit der freiwilligen Anmeldung der Kinder und die Luftangriffe begannen. Die nationalsozialistische Reichsjugendführung konnte aufgrund ihres damals gesetzlich geregelten Erziehungsmitsprache-Rechts deutlicher werden. Sie versuchte nun, Anmeldungen durch Einschüchterungen zu bekommen: Durch Hänseleien einzelner Kinder vor der Schulklasse wegen ihrer Nichtanmeldung oder durch die Behauptung, die Eltern könnten den Tod ihres Kindes verschulden. Uniformierte Mitarbeiter der staatlichen Jugendorga-nisation Hitler-Jugend (HJ) bzw. Bund deutscher Mädel (BDM) kamen in den Unterricht, um zu werben. Sie leiteten regelmäßig stattfindende HJ- bzw. BDM-Gruppen in der Freizeit, denn die Mitgliedschaft aller Schulkinder wurde Pflicht. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) organisierte die Kinderlandverschickungen, die HJ führte sie durch. Erste Züge mit noch alters-gemischten Kindern ab 4 Jahren fuhren schließlich los, doch weiterhin zögerten viele Eltern oder brachten ihre Kinder lieber privat auf dem Land bei Bekannten oder Verwandten unter.
Schließlich beschloss die NSDAP, 6-9jährige Kinder in Pflegefamilien auf dem Land zu schicken; 10-14jährige wurden als Schulklasse mit Lehrern ins KLV-Lager in Heime, Jugendherbergen, Zelte, Gasthäuser, Klosteranlagen entsandt. Es gab Unterricht, der jedoch anders als gewohnt ablief: So hatten sie z.B. fünf Stunden Sport pro Woche, da „kerngesunde Körper, hart wie Kruppstahl“ ein Ziel der dort von Anfang an geplanten Lagerumerziehung war. Drei Stunden Rassenkunde gehörten ebenso dazu wie Strümpfe von Soldaten stopfen. Das menschenfeindliche Denken von lebenswertem und angeblich lebensunwertem Leben, das rassistische Gift einer Existenz von Menschen zweiter Klasse drang nun täglich in die Kinderköpfe. Es herrschte eine strenge Hierarchie: Lagerleiter und Lehrer für Unterricht und Appelle, Stubenleiter_innen und Lagerführer_innen für reibungslose Abläufe in den Zimmern und für das weitere Tagesprogramm. BDM-Führerinnen wurden von der NSV auch als Erzieherinnen in NSV-Kinderheimen eingestellt. Die Kinder marschierten, parierten und sangen, wurden rund um die Uhr beschäftigt. Hatten sie gute Leistungen, war es eine Art „Gnade“, ein Lob zu bekommen, denn immer höhere körperliche Leistungen wurden fast wie beim Militär herausgefordert. Viele bekamen Heimweh. Besonders für jüngere Kinder blieb als prägendste Erinnerung „ein unendlich großes Gefühl der Verlassenheit“. Elternbesuche waren zunächst verboten, doch wegen der häufig 6-9 Monate andauernden Trennungszeit wurden ab 1943 gelegentlich Elternbesuchszüge zentral organisiert. Das Abholen der Kinder war verboten. Es gab Postzensur, alle Briefe der Kinder wurden gelesen. Dort durfte nur Positives stehen, nach Hause zu wollen durfte nicht mal laut gesagt werden. Die Eltern zuhause sollten doch „nicht beunruhigt“ werden… Manche Kinder behielten ihre KLV-Lager dennoch in guter Erinnerung, weil Druck und Tonfall nicht überall stark militaristisch gewesen sein sollen, die Lagergemeinschaft positiv erlebt wurde und ihr Abenteuergefühl überwog. Es fanden ca. 5000 KLV-Lager statt. Durch die staatlichen und von einigen Familien selbst durchgeführten Evakuierungen ihrer Kinder in ländliche Gebiete waren über zwei Millionen Kinder monatelang von ihren Familien getrennt. (1)
Viele Kurorte erlebten während des Krieges zwar einen starken Rückgang des gewohnten Kur-betriebs, doch viele Häuser füllten sich nun mit Kriegsverwundeten, wurden Lazarett oder Gene-sungsheim. Auch in die Harzer Kurorte fuhren Züge zur Kinderlandverschickung und brachten die Kinder und ihr von der NSV organisiertes Lagerprogramm in die dortigen Heime. Ein knappes Jahrzehnt nach Kriegsende kamen die ersten Verschickungskinder….. (2) (3)
Ich empfinde einige erdrückende Parallelen zwischen Erweiterter Kinderlandverschickung und meiner Verschickung. Wie konnte sich über Jahrzehnte hinweg in einer gewollten Demokratie eine derart feindliche Haltung Kindern gegenüber öffentlich weiterleben lassen? Unter großen inneren Widerständen musste ich in die nationalsozialistische Gedankenwelt eintauchen, da meine bishe-rigen Geschichtskenntnisse sich als zu oberflächlich herausstellten. Das kostete mich viel Zeit und über lange Zeiträume Energie. Archivgebühren werden mich Geld kosten. Denn ich brauche Fakten, um mit dem Verschickungstrauma und seinen Folgen irgendwann abschließen zu können. Ich kann meine Wut und Trauer kaum beschreiben, wenn ich darüber nachdenke, wie mein Leben sich hätte entwickeln können,wären mir unmenschlichen Erfahrungen psychischer und institutioneller Gewalt erspart geblieben.
(1)https://www.jugend1918-1945.de/portal Jugend thema.aspxbereich=projekt&root=26636&id=932&redir=
https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistische_Volkswohlfahrt
(2)https://www.hvsn.de/index.php/presse/presseartikel/schueler-in-der-kinderlandverschickung
(3)https://www.pedocs.de/volltexte/2018/15206/pdf/Kuhlmann_1989_Erbkrank_oder_erziehbar.pdf
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